Die Impfungen der Natur II

Im Wald geht es den meisten Menschen gut. Wenn sie sich dort aktiv bewegen, kommen sie gefühlt jünger heraus als sie hineingegangen sind.

Foto: Dörte Rahming

Wissenschaftler in Mecklenburg-Vorpommern, in Österreich und in vielen anderen Regionen der Welt sind überzeugt: Ein Aufenthalt im Wald – vor allem wenn er mit intensiver Bewegung verbunden ist – fördert die Gesundheit. Mit der weltweit einzigartigen Entwicklung von Heilwäldern schafft Mecklenburg-Vorpommern sogar Waldgebiete, die für die therapeutische Nutzung für spezielle Indikationen gestaltet sind. Durch geschulte Therapeuten begleitete Behandlungen im Wald sind geeignet, den Umgang mit Krankheiten sowie das Ausmaß der Behinderung durch diese Erkrankung günstig zu beeinflussen. Chronische Krankheiten können lindernd behandelt werden.

Die Alpen im Salzburger Land – das ist die Gegend, in der Dr. Arnulf Hartl von der Paracelsus Medizinischen Privat-Universität in Salzburg forscht. Der Immunologe leitet dort das Institut für Ökomedizin und beschäftigt sich schon seit Jahren mit der medizinischen Wirkung des Waldes auf den Menschen. Darüber sprach er auch auf dem 1. und 2. „Internationalen Heilwald-Kongress ,Gesundheitspotenzial Wald‘“, die 2017 in Heringsdorf auf Usedom/Mecklenburg-Vorpommern und 2018 im österreichischen Krems stattfanden.
Er meint: Im Wald geht es den meisten Menschen gut. Wenn sie sich dort aktiv bewegen, kommen sie gefühlt jünger heraus als sie hineingegangen sind. Wir sprachen mit ihm.

Sie betonen, dass sich insbesondere die Kombination aus Wald und Wasser positiv auswirkt. Warum ist das so?
Wir haben eine starke evolutionäre Konditionierung auf das Geräusch und den Anblick fließenden Wassers, es wird heute noch als angenehm wahrgenommen. Fließendes Wasser – im Gegensatz zu stehendem – bedeutete sauberes, trinkbares Wasser. Wald bedeutete Nahrung und Schutz. Und die Kombination reduziert auch bei uns heutigen Menschen die Stresshormone. Das lässt sich sogar in der Hirnaktivität messen.

Wie genau läuft diese Forschung ab?
Das macht man durch Vergleiche. Wir untersuchen zum Beispiel, was ein Wasserfall im Vergleich zur grünen Wiese bei Patienten mit chronischem Stress und Burnout bewirkt. Es stellte sich heraus, dass es nachhaltig entstressend wirkt und das Immunsystem der Probanden stärkt, wenn sie sich jeden Tag eine Stunde lang am Wasserfall, also fließendem Wasser, statt eine Stunde auf der Wiese aufhielten. Dazu haben wir ihr Blut getestet und andere physiologische Daten erhoben.
In einer anderen klinischen Studie haben wir Urlaubsformen verglichen: Die Menschen waren zwischen 65 und 85 Jahre alt und hatten ein bestimmtes Profil von altersspezifischen Erkrankungen. Mit der einen Gruppe sind wir jeden Tag gewandert und haben geschaut, wie sich diese Art von Urlaub im Vergleich zu einem Standard-Urlaub auswirkt, bei dem man Kirchen oder Kaffeehäuser aufsucht.

Was sind die Ergebnisse?
Unsere Forschungen beweisen einen Zusammenhang zwischen Bewegung im Wald und dem Immunsystem. Etwa ab dem 45. Lebensjahr verlieren unsere Immunzellen die Fähigkeit, auf neue Feinde wie Krebszellen oder Viren zu reagieren. Das kann man mit aufwändigen Analyseverfahren im Blut messen. Wir aber konnten zeigen: Wenn man sich eine Woche lang in der Natur bewegt und dazu Heilbäder nimmt, verjüngt sich das Immunsystem nachhaltig. Blutdruck und Ruhepuls sinken, außerdem wird das Gleichgewicht gestärkt – das ist wichtig für die Sturzvermeidung. Und nicht zuletzt hat sich auch die kognitive Leistungsfähigkeit unserer Probanden erheblich verbessert. Man kommt also sozusagen verjüngt aus dem Wald. Und diese Effekte halten ein halbes Jahr an.

Wird zur Wirkung des Waldes woanders auch geforscht?
Forschungen zur gesundheitlichen Wirkung der Natur im Allgemeinen gibt es natürlich schon lange, und wir wissen, dass die Natur gegen Zivilisationskrankheiten wirkt. Speziell zum Thema Wald gibt es Daten aus dem asiatischen Raum, die aber unseren wissenschaftlichen Standards nicht genügen. In Europa gab es bisher nur drei Studien, zwei in Schweden und eine in Dänemark. In der ersten war eine Gruppe depressiver Patienten regelmäßig im Wald, eine andere Gruppe saß in einem Keller und bastelte. Es zeigte sich in beiden Studien kein Unterschied. Eine weitere Studie kommt aus Kopenhagen. Dort gibt es einen Therapiewald, der jedoch genauso entstressend wirkt wie die Innenstadt. Deshalb haben wir hier in Salzburg einen anderen Ansatz. Wir glauben, dass man sich im Wald bewegen muss, um einen Effekt zu erzielen. In Amerika nennt man das „green exercises“.

Woran liegt das?
Bewegungen im Grünen nimmt man als weniger anstrengend wahr und sie haben viele weitere positive psychologische Affekte. Das schützt vor Stress, ist also ein präventiv-medizinischer Faktor. Dazu kommt: Wir arbeiten uns orthopädisch viel mehr durch. Wer auf Waldboden oder am Strand läuft, sich auf ein komplexes Terrain einstellen muss, stärkt seine Rumpf- und Beinmuskulatur mehr als auf ebenem Untergrund. Das kann man zum Beispiel bei Arthrose sinnvoll einsetzen. Und die vielleicht interessanteste Komponente ist die mikrobielle Biodiversität. Das heißt, im Wald haben wir tausend Mal mehr Bakterien, Pilze oder andere Organismen als in der Stadt. Das moduliert unser Immunsystem und wirkt wie eine Impfung. Das Mikrobiom des Waldes wirkt anti-entzündlich, außerdem gegen Auto-Immunerkrankungen, Allergien oder Asthma.

Gilt das für alle Altersgruppen?
Wir müssen Kindern genauso wie älteren Menschen zeigen, dass Bewegung im Grünen wichtig ist, gerade jenen, die in Städten leben. Das kann Wald sein, aber auch ein Botanischer Garten oder ein anderer Naturraum. Studien aus den Niederlanden zeigen: Je näher man am nächsten Grün lebt, umso gesünder ist man und umso länger lebt man.

Was bedeuten diese Erkenntnisse für die Zukunft?
Wir können uns die Reparaturmedizin in diesem Maß volkswirtschaftlich nicht mehr leisten. Deshalb wird Grünraum immer wichtiger werden – vor allem in Städten und in deren Nähe. Sei es, um bei Kindern ADHS zu verhindern, um die Älteren mobil zu halten und das Immunsystem zu verjüngen und um bei der werktätigen Bevölkerung die Krankenstände zu reduzieren. Die Natur ist der niedrigstschwellige Zugang zu einer extrem effizienten und günstigen Präventions- und Rehabilitationsform. Und dabei ist die Bewegung das A und O: Schwitzen, Kälte, aus dem Ruhepuls kommen, sich anstrengen, auch mal unangenehmes Wetter aushalten. Denn Büros stimulieren uns weder physiologisch noch psychologisch. Und das spricht auch für Naturschutz, denn viele Menschen brauchen das Grün.

Dörte Rahming
Wortlaut Rostock

Siehe auch Teil 1 dieser Serie.